VersaCommerce Team
Die Briten haben entschieden: Sie werden die EU verlassen. Was bedeutet das für den E-Commerce insgesamt? Welche Folgen hat das für dich als Shopbetreiber, wenn du Kunden im Vereinigten Königreich hast oder britische Waren verkaufst? Wir schauen für euch in die Glaskugel – der Brexit kommt
Europa ist in heller Aufregung: Die Briten haben entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Allenthalben wird nun heftig diskutiert, welche Auswirkung der so genannte Brexit auf den verschiedensten Feldern der Politik, der Wirtschaft und des Zusammenlebens in Europa haben wird. Wir wollen für euch einmal versuchen zu skizzieren, welche Konsequenzen der beschlossene Alleingang unserer Freunde auf der Insel für den E-Commerce insgesamt haben könnte und wie sich dieser auf Shopbetreiber auswirkt, die zahlreiche Kunden in Großbritannien haben oder ihre Waren dort einkaufen.
Vieles liegt derzeit freilich noch im Dunkeln, da die Brexit-Jünger im Vereinigten Königreich offensichtlich nur wissen, was sie nicht wollen: EU-Mitglied sein. Auf der konstruktiven Seite sieht es bei den Isolationisten auch Tage nach den sicher britisch-heftigen Siegesfeiern aktuell sehr düster aus. Da scheint momentan noch niemand so genau zu wissen, wie der Austritt gestaltet werden soll. Viele Details werden Gegenstand der Austrittsverhandlungen zwischen EU und britischer Regierung sein. Und diese werden sich ganz sicher zwei Jahre hinziehen. Aber einige Dinge, die den E-Commerce betreffen, sind bereits mit der Grundsatzentscheidung für den Brexit klar. Diese wollen wir beleuchten.
Großbritannien ist die unangefochtene Nummer eins im europäischen E-Commerce. Dies belegen schon die dort im Online-Handel erzielten Umsätze, die sich im vergangenen Jahr auf rund 175 Milliarden Euro beliefen. Das ist mehr als in den auf den Plätzen zwei bis vier folgenden Ländern Frankreich, Deutschland und Russland zusammen.
Neben der schieren Marktgröße ist das Vereinigte Königreich auch ein Vorreiter in Sachen E-Commerce. Services wie Click & Cillect, Same Day Delivery, Online-Lebensmittelhandel und einige mehr, die hierzulande noch in den Kinderschuhen stecken, sind auf der Insel längst etablierte Selbstverständlichkeiten. "In UK ist der E-Commerce durch die frühe Adaption durch den englischen Einzelhandel bereits weiter entwickelt als in Deutschland. Das wird besonders bei der Verknüpfung von Online- und Offline Vertriebsaktivitäten der Händler und im Lebensmitteleinzelhandel deutlich. Auch bei den Verbrauchern hat er bereits eine deutlich höhere Bedeutung. Die Briten kaufen im Durschnitt 50 Prozent mehr im Internet ein als die Deutschen", so beispielsweise Arne Vogt, Gründer der Unternehmensberatung Artavo gegenüber E-Commerce News.
Brexit: Wird Großbritannien aus Sicht des Online-Handels von der Landkarte verschwinden? (Foto: peresanz / fotolia.com)
Ich denke nicht, denn die Schweiz ist auch kein EU-Mitglied und nimmt dennoch am europäischen E-Commerce teil. Doch wenn ein Player von der Bedeutung Großbritanniens ein Stück weit abrückt und dabei neue Handelshemmnisse entstehen, dann kann das für die Branche insgesamt kaum gut sein.
Wenn du selten oder nie nach Großbritannien verkaufst und auch keine Waren von dort beziehst, ist die Frage leicht zu beantworten. Du kannst dich locker machen, denn der Brexit tangiert dich nicht. Du könntest sogar dadurch profitieren, dass deine Marktbegleiter aus UK künftig einen schwierigeren Zugang zum deutschen und europäischen Markt haben werden, und dadurch gegenüber dir an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen.
Gänzlich anders sieht es natürlich aus, wenn Großbritannien ein für dich wichtiger Absatzmarkt ist oder du in signifikanter Größenordnung mit Waren handelst, die du von dort beziehst. Dann droht dir, wie oben bereits gesagt vorbehaltlich der tatsächlichen Ausgestaltung des EU-Austritts von Großbritannien, Ungemach gleich auf einigen unschönen Feldern deines Geschäftes.
Eine der wirklich großen Errungenschaften der Europäischen Union ist der barrierefreie Binnenmarkt. Waren und Dienstleistungen können innerhalb dieses Binnenmarktes frei gehandelt werden. Nun werden die Briten voraussichtlich natürlich versuchen, das Freihandelsabkommen (Free Trade Agreement - FTA) mit der EU im Rahmen der Verhandlungen in die Zukunft zu retten. Ob und inwieweit dies gelingt, steht derzeit jedoch völlig in den Sternen.
Gelingt dies nicht zu einhundert Prozent, drohen beim Handel mit Großbritannien gegenüber dem Status Quo auf jeden Fall zusätzliche Belastungen in Form von Zöllen und Steuern, nämlich einer Einfuhrbesteuerung, weil dann nicht mehr in den Binnenmarkt, sondern in ein Drittland geliefert wird. Es erübrigt sich beinahe zu sagen, dass kleine und mittlere Online-Shops hiervon härter betroffen wären, als die E-Commerce-Riesen.
Nicht alle, aber viele rechtliche Aspekte des Online-Handels sind EU-weit einheitlich geregelt. Wir erinnern uns zum Beispiel alle noch alle an den 13. Juni 2014, als die EU-Verbraucherrichtlinie in Kraft getreten ist. Von dieser mag ja jeder inhaltlich halten, was sie oder er möchte. Ein unbestrittener Vorteil war und ist jedoch, dass dieser Bereich europaweit einheitlich geregelt wurde. Aufwändige Einzelprüfungen für jedes Land entfielen so. Die im E-Commerce insgesamt weitestgehend harmonisierte Rechtslage steht mit dem Brexit auf der Kippe. Man wird sehen, wie die Briten das künftig ausgestalten werden. Aber auch hier gilt: Besser wird es auf keinen Fall. Zusätzlicher Aufwand droht.
Nach Ansicht der allermeisten Auguren an den Finanzmärkten wird das GBP gegenüber dem EUR dauerhaft an Wert verlieren. Diese Entwicklung hat ja schon Minuten nach dem Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses des Brexit-Referendums massiv eingesetzt. Dieser Wertverlust des GBP in Relation zum EUR kann Fluch oder Segen sein. Europäische Händler, die ihre Waren in UK beziehen, werden profitieren. Diejenigen Händler jedoch, die ihre Waren nach UK verkaufen, werden natürlich massive Nachteile erleiden, da ihre Waren für britische Käufer teurer werden.
Das Fazit fällt ernüchternd aus: Wirkliche Gewinner des Brexit wird es bis auf den einen oder anderen kleinen Einzelfall nicht geben. Die Briten insgesamt und die britischen Online-Händler werden einen gehörigen und lang anhaltenden Kater erleben. Ihr Zugang zum gesamten europäischen Markt wird erschwert werden, worüber sich auf der Insel eigentlich niemand freuen kann.
Auch deutsche Shopbetreiber, die in einer signifikanten Größenordnung mit Großbritannien verbunden sind, werden negative Folgen erleiden.
Nun möchte ich euch nicht ohne einen Hoffnungsschimmer am Horizont zurücklassen. Als Optimist hoffe ich, dass im Raumschiff Brüssel nun endlich die Alarmglocken schrillen. Bei den all zu oft völlig realitätsfremden Euro-Bürokraten könnte der Brexit die Erkenntnis wecken, dass es wichtiger ist, die wahren Probleme der Menschen und der Wirtschaft zu lösen, als die Wattzahlen von Glühbirnen und Staubsaugern festzulegen.
Wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Was meint ihr? Wird das mehrheitliche Nein der Briten zur Europäischen Union in Brüssel als Weckruf wahrgenommen werden?